Kennt ihr ein anderes Spiel, in dem man seine Einheiten in einem „Gebärbecken“ „auskeimt“, bei Bedarf eine oder mehrere dieser klonartigen, weißhaarigen „Schwestern“ „opfert“ und in dem die einzelnen Angriffe auf unterschiedliche „Synapsen“ gleichgestellt sind? Der Anfang in Othercide ist - trotz genretypischer Tutorialhinweise - eine kleine Herausforderung. Das liegt weniger am anfangs entspannten Schwierigkeitsgrad der Kämpfe, als an den verwirrenden Begrifflichkeiten des düsteren Gesamt-Settings und einigen, (mir) nicht in dieser Form vertrauten, Spielelementen.
Das französisch-schwedische Entwicklerteam hat sich mit Othercide sowohl stilistisch als auch spielerisch ins Zeug gelegt und an beiden Fronten mit Genrekonventionen gebrochen. Eine linear angelegte, im Prinzip von Anfang an klare Story im Stil von X-Com (Aliens greifen an, wir werden die Besten der Besten, klauen Technologie und drehen den Spieß um) gibt es in dem von verstörenden Bildern durchdrungenen Spiel ebenso wenig wie Basisbau oder Forschungsbäume. Eine Review zu dem Titel zu Schreiben, erinnert daher ein wenig an Gedichtinterpretationen der Mittelstufe: Was will der Autor uns sagen?
Story Wie eingangs erwähnt, schwer zu fassen und daher nur in Grundzügen zu umreißen: Eine dystopische Version unserer Welt mit vage vertrauten Figuren, die in Gestalt der Gegner als böse, alptraumhaft verzerrte Stereotypen auftreten. Kleriker, Pfleger, Chirurgen und zahlreiche namenlose Schrecken bilden das Kanonenfutter für unsere weiß gewandeten Einheiten. Ihres Zeichens allesamt „ausgekeimte“ Töchter einer rot gewandeten Frau, die sich nach dem Riss des Schleiers nicht mehr im Stande sieht, selbst zu kämpfen, aber ihre Fähigkeiten an ihre zahlreichen Töchter weitergeben kann. Zwischenzeitlich glaubte ich zu erkennen, dass die Geschichte im Unterbewusstsein eines wahnhaft veränderten Verstandes spielt. Dazu würde passen, dass wir mit unseren Töchtern die rundenbasierten Kämpfe in „Synapsen“ austragen.
Meinung:
Spielmechanik Die Grundidee des Spiels ist bewährte rundenbasierte Taktik im Stil von X-Com. Die (leider mitunter arg trist gestalteten) Areale sind in Schachbrettfelder aufgeteilt und die Züge erfolgen in einer zeitlichen Abfolge. Diese Abfolge wir in Othercide jedoch mehr als in anderen Spielen zu einem zentralen Element: Eine als Kontinuum dargestellte Zeitleiste am unteren Bildschirmrand zeigt an, wann welche Figur dran ist. Das ist soweit noch in Form von Initiativewerten aus Dungeon Crawlern und ähnlichen Titeln bekannt. Je umfangreicher die Aktionen einer Figur sind, desto weiter nach hinten katapultiert sie sich für den nächsten Zug. Eine eher passive und nur durch Trigger ausgelöste Aktion hingegen (z.B. „Attackieren, wenn im Umkreis von 10 Feldern eine befreundete Einheit angegriffen wird“) verschiebt die Figur nur wenig nach hinten, gibt uns also die Möglichkeit, noch einmal zu reagieren, bevor alle gegnerischen Einheiten ihren Zug gemacht haben. Das ist besonders nützlich und überlebensnotwendig, wenn wir ansonsten durch die schiere Anzahl der Gegner überrannt werden würden. Das Spiel mit der Zeit will verstanden und gemeistert werden und stellt ein spannendes Spielelement dar.
Eher klassischer Natur sind die zu Beginn drei unterschiedlichen Klassen der Einheiten. - Da wäre zunächst die Klingenmeisterin, die große Distanzen zurücklegen und mit einem in Relation riesigen Schwert ordentlich austeilen kann. - Aus der Ferne unterstützt die Seelenschützin, die mittels stylisher Pistolen attackieren, eigene Einheiten buffen oder Gegner unter Feuer nehmen kann, wenn diese sich aus ihrer Deckung wagen. - Die Schildträgerin ist am ehesten das, was Veteranen als einen Tank kennen. Viel Leben, schwere Rüstung und die Möglichkeit, gegnerische Angriffe auf sich zu lenken. Ein bisschen Schaden austeilen darf sie auch, die Stärken liegen jedoch in anderen Bereichen.
Jetzt wird`s Meta Die Zeitleiste ist ein nicht gänzlich neues, aber doch in dieser Wichtigkeit noch nicht gesehenes Element. Eine weitere Besonderheit des Spiels ist die Tatsache, dass wiederholtes Scheitern quasi zum Konzept des Gameplays gehört. Nach jedem Kampf bekommen die teilnehmenden Töchter Erfahrung, steigen auf und schalten Fähigkeiten frei. Darüber hinaus werden unregelmäßig auch Erinnerungsfetzen einer zusammenhängenden Geschichte freigeschaltet, die man in einer Art Kodex nachlesen kann. Jede Erinnerung kann mit Fähigkeiten verknüpft werden und diese dann bei der jeweiligen Tochter verstärken. Was die Töchter zwischen den Missionen nicht tun: heilen. Egal wie gut man also kämpft, irgendwann steht man mit lauter angeschlagenen Einheiten am Beginn eines Bosskampfes. Das lässt sich nur dadurch lösen, dass man Einheiten mit mindestens dem gleichen Level opfert. Die geheilte Einheit bekommt einen kleinen Bonus, der von der geopferten abhängt. Da man jedoch nicht unbegrenzt Töchter generieren kann und die Ressource dafür an mehren Stellen eingesetzt werden muss, stehen schnell harte Entscheidungen an. Hat man sich festgebissen, hat man zwei Möglichkeiten: Man versucht, was geht und geht zu Grunde oder man beendet eine Ära. In beiden Fällen startet eine neue Ära und es geht von vorne los, allerdings bleiben gesammelte Erinnerungen und einige Buffs erhalten und man startet mit Ressourcen, die man mit den Kämpfen der vorherigen Ära verdient hat. Einer dieser Durchläufe nennt sich im Spiel Evokation. Ist man erfolgreich, dauert eine Ära sieben Tage und am Ende droht jeweils ein Entscheidungskampf. Ob man die sieben Tage kämpfend verbringt, um Ressourcen für die nächste Evokation zu sammeln oder die vorhandenen Töchter schont, um den Bosskampf zu wuppen, ist eine weitere strategische Entscheidung. Hier ist neben Strategie im Kampf auch im Metagameplay ein klarer Kopf gefragt. Ein spannender Kniff.
Schwarz – weiß – rot Beschreibt nicht nur die Farben der Flagge des Norddeutschen Bundes (1866-1870) sondern auch die gesamte Farbpalette, die bei Othercide zum Einsatz kommt. Die bedrückende Atmosphäre wird durch grau verschleierte, schwarz-weiße Level untermauert. Hier und da kommt an geeigneter Stelle buchstäblich ein Tropfen rot hinzu. Die Figuren und Gegner selbst sind toll gestaltet und verkörpern einen ganz eigenen Stil. der an Horrorautoren wie Lovecraft erinnert. Die Level sind zwar schlüssig dazu gestaltet, kränkeln allerdings an mangelnder Vielfalt, sodass die Missionen, deren Ziele ebenfalls recht simpel gehalten sind, mitunter repetitiv wirken. Als Missionsziel gilt es entweder, alle zu töten („Jagd“), eine gewisse Zeit durchzuhalten („Überleben“) oder eine Seele zu eskortieren („Rettung“). Da wäre etwas mehr Vielfalt drin gewesen.
Vom künstlerischen Aspekt her ist Othercide sicher nicht jedermanns Sache, aber definitiv eine Perle. Im Spieldesign sind einige Dinge sehr elegant verankert (Zeitleiste, Management der Einheiten), aber andere könnten klarer sein: Wie groß ist die Reichweite meiner und der gegnerischen Einheiten? Wo genau genieße ich Deckung durch Objekte? Mehr als einmal habe ich versehentlich die falsche Einheit bewegt, während ich noch meine Möglichkeiten ausloten wollte.
Fazit: Othercide ist eine Designperle, die definitiv nicht im Mainstream schwimmt, dafür aber spannende Entscheidungen und strategisches Denken auf der Metaebene erfordert. Kleine Gameplay-Schwächen sind daher verzeihbar.
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